Hartmut Scheffler ist Geschäftsführer von TNS Infratest – einem der grössten Marktforschungskonzerne der Welt. Er hat nicht nur die Marktforschungslandschaft in Deutschland und hier insbesondere die Medienforschung massgeblich geprägt – er gilt auch als einer der Vordenker der Branche der sich immer schon mit der Frage beschäftigt hat, wie die Marktforschung sich weiterentwickeln kann und muss. Aus seinem Wirkungsbereich sind zahlreiche wichtige Initiativen für den deutschen Online-Markt vorangebracht worden – neben der Aufbauphase für die AGOF internet facts haben Leute aus seinem Team sowohl beim Aufbau von TGP als auch bei nugg.ad die Finger im Spiel gehabt…
Herr Scheffler – eine der Wiegen des Targetings liegt ja in Bielefeld – zwei Ihrer Ex-Mitarbeiter haben von dort aus die Firma nugg.ad gegründet. Was hat denn Targeting eigentlich mit Marktforschung zu tun?
Zunächst eine wichtige Definition und Abgrenzung: Marktforschung, die im neuen BDSG eine Erlaubnisnorm erhalten hat, arbeitet immer anonym und grenzt sich zu forschungsfremden Tätigkeiten wie Verkauf ab. Ich möchte also ganz eindeutig nur für die Varianten des Targetings Position beziehen, die aus Datenwahrscheinlichkeiten berechnen, dies aber unter dem strikten Anspruch der Anonymität. Eine Kernaufgabe des Marketings und der das Marketing unterstützenden Marktforschung ist es, den richtigen Zielgruppen das richtige/optimierte Produkt an den richtigen Orten und mit Hilfe der richtigen (Dosierung und Inhalt) Werbung und Kommunikation nahe zu bringen und zu verkaufen. Gerade letzteres wird durch Targeting optimiert. Es entsteht in der Regel eine Win-Win-Situation: Der Absender/Markenartikler reduziert mit Streuverlusten auch Kosten, der Adressat erhält insgesamt eher und genauer die Informationen, an denen Interesse besteht und eher selten diejenigen, bei denen dies nicht der Fall ist. Targeting ist damit Bestandteil einer die Markenführung und die Kommunikation unterstützenden Marktforschung.
Die Marktforschung mit Ihren Stichproben, Statistikern und Tabellenbänden scheint ja mit den ganzen aktuellen partizipativen Modellen des Internet kaum noch Schritt halten zu können. Glauben Sie, dass wir dem Ende der Marktforschung entgegensehen und Unternehmen Ihre Erkenntnisse in Zukunft nur noch im direkten Dialog mit Ihren Kunden im Web beziehen werden?
Das sehe ich überhaupt nicht! Die verschiedenen Möglichkeiten werden sich ergänzen, sie haben jeweils unterschiedliche Stärken und Schwächen. So sind z. B. diejenigen, die im WEB im Dialog mit dem Hersteller treten (sei es durch Maßnahmen des Herstellers getrieben, sei es durch Eigeninitiative) immer nur die aktive Spitze der gesamten Kundschaft. Es ist bei Weitem nicht gesagt, dass die dort geäußerten Meinungen, Produktwünsche etc., dass die dort entwickelten Produktideen oder Kreationen wirklich das Meinungsbild oder gar das Meinungsspektrum der Kunden bzw. der insgesamt angestrebten Zielgruppen umfassen. Die klassische Umfrageforschung hat immer Validität der Messung, Reliabilität und Objektivität einerseits und das Ziel der Verallgemeinerbarkeit/Repräsentativität andererseits in den Vordergrund gestellt. Diese Kriterien werden auch weiterhin nur durch die klassische Marktforschung bedient werden. Die neuen Verfahren liefern hochinteressante, ergänzende und vertiefende, manchmal klassische Marktforschungsprozesse sogar initiierende Informationen. Sie werden an Bedeutung zunehmen und aus dem Portfolio sinnvoller Verfahren nicht mehr wegzudenken sein. Sie allein zu nutzen wird allerdings enorme Risiken mit sich bringen. Ich erwarte eine intelligente Verknüpfung der etablierten Verfahren mit den neuen, WEB-basierten Verfahren.
Predictive Targeting ist ja der Versuch statistisch herauszufinden, wofür ein Online-User sich interessieren könnte – u.a. mit Mitteln der Marktforschung, aber auch mit Algorithmen des Machine Learnings. Dreht sich einem gestandenen Sozialforscher bei dieser Vorstellung nicht der Magen um?
Da dreht sich einem Sozialforscher oder Marktforscher oder Mediaforscher keinesfalls der Magen um. Ähnliche Versuche kennzeichnen ja von Anfang an auch die klassische Marktforschung. Auch dort ist immer versucht worden, Informationen im Zusammenhang zu analysieren und aus kombinierten Ergebnissen, Scores etc. Wahrscheinlichkeiten für ein bestimmtes Verhalten abzuleiten. Die aktuellen Verfahren sind lediglich die logische Fortsetzung dieser Ansätze mit den zum Teil neuen Möglichkeiten aufgrund der Weiterentwicklungen im Hard- und Softwarebereich. Der Magen würde sich nur dann umdrehen, wenn die Meinung an Bedeutung gewinnen würde, dass entsprechende Algorithmen die Basisinformationen, das notwendige Basiswissen überflüssig machen. Ähnlich kritisch wäre die Meinung, dass es sich bei den Ergebnissen um “wahre” Werte und nicht um Wahrscheinlichkeiten und Annäherungen handelt.
TNS Infratest war ja massgeblich am Aufbau der Reichweitenstudie: internet facts der AGOF beteiligt und TNS betreibt weltweit viele Systeme zur Messung von Einschaltquoten und Reichweiten. Sehen Sie diese Audience Measurement Werkzeuge, durch Technologien wie Targeting, bedroht?
Auch da sehe ich keine Bedrohung, sondern eine Ergänzung! Das Targeting setzt auf Verhaltensweisen auf, die animiert und motiviert werden müssen, für die es immer eine Vorgeschichte gibt. Diese Vorgeschichte ist zu einem guten Teil geprägt aus medialem Verhalten und Aktivitäten der verschiedenen Medien. Massenkommunikation wird nicht überflüssig werden. Massenkommunikation und 1 : 1-Kommunikation ergänzen sich von Tag zu Tag mehr. Die Relevanz der einzelnen Medien ist selbstverständlich je nach Produktkategorie, Zielgruppe etc. unterschiedlich. Die Bedeutung der verschiedenen Kommunikationskanäle und damit der Mediengattungen wird – wenn auch in den Größenordnungen verschoben – erhalten bleiben und die klassischen Reichweitenmessungen weiterhin notwendig z. B. für die Festlegung von Preisen machen. Erneut gilt nicht das “Entweder – Oder”, sondern das intelligente “Sowohl – Als auch”.
Auf der einen Seite gilt das Arbeiten mit Stichproben als eine der wichtigsten Errungenschaften der Marktforschung überhaupt – auf der anderen Seite ist es im Internet leicht möglich unterschiedlichste Verhaltensdaten von allen Usern einer Website oder eines E-Commerce Portals ohne grossen Aufwand zu erheben. Müsste man nicht seriöserweise den Betreibern solcher Portale sagen „ihr habt alle Daten die Ihr braucht“?
Diese Frage verstehe ich nun überhaupt nicht! Betreiber von Portalen haben genau die Daten, die Nutzer bei der Nutzung einer Website oder eines Portals hinterlassen. Die Betreiber einer Website oder eines Portals haben damit natürlich die Verhaltensdaten auf ihrer Plattform. Was sie nicht wissen, ist das gesamte Verhalten drum herum, das sich gegenseitig beeinflusst, das mediale Verhalten und Kaufverhalten bestimmt usw. Verhalten und damit auch kaufrelevantes Verhalten geht nach wie vor weit über Verhalten im Internet, geschweige denn über Verhalten und Nutzung einer bestimmten Website hinaus. Für mich ist eher das Gegenteil gültig: Je mehr verschiedene Verhaltensplattformen und Verhaltensmuster die Realität bereit hält, um so komplexer und komplizierter sind die notwendigen Messungen durch traditionelle und neue Marktforschung, um Gesamtbilder der Verhaltensweisen und vor allem zusätzlich der Verhaltens-Motivationen zu erlangen.
Verschiedentlich wurde Targeting schonmal als Marktforschung 2.0 bezeichnet. Denken Sie die Marktforschung müsste tatsächlich versuchen Ihre Instrumente mehr in reale Dialogprozesse mit Kunden zu integrieren, wie es auch Targeting-Systeme für sich in Anspruch nehmen?
Hier möchte ich auf eine frühere Antwort verweisen: Die Marktforschung ist bereits dabei, die neuen Dialogmöglichkeiten und Dialogprozesse auch in neue Marktforschungsverfahren zu überführen. Dies ist bereits mit einer Vielzahl von Verfahren im Bereich der Ideenfindung, der Co-Creation etc. gelungen. Gleichzeitig gilt es auch weiterhin, die repräsentativen, objektiven, neutralen Verfahren der traditionellen Marktforschung einzusetzen. Ich denke, dass die Marktforschung hier auf einem richtigen Weg ist und weder in falschem Verharren der Struktur der traditionellen Verfahren beharrt noch sich populistisch und opportunistisch jedem beliebigen Hype zu ergeben. Die traditionelle Marktforschung kann durchaus selbstbewusst diesen Prozess angehen und steuern: Sie kann Treiber und wird nicht getriebener sein. Ich sehe da im Augenblick, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Angeblich hätte Apple nie am Ipod gearbeitet, wenn sie auf die Marktforschung gehört hätten. Ist es überhaupt möglich mit Marktforschung Dinge hervorzubringen, die neu sind und die Leute faszinieren?
Dieses ist ein beliebter Vorwurf an die Marktforschung, den ich mittlerweile wirklich nicht mehr hören kann. Sie hat sicher ihre Grenzen in der Entdeckung solcher Produkte. Die neuen dialoggetriebenen Verfahren sind sicherlich an dieser Stelle kreativer und können dieses Manko ein wenig reduzieren. Aber auch damit wird es immer noch so sein, dass auch in Zukunft irgendein Genius ohne Marktforschung die richtige Idee hat (so wie Hunderte und Tausende ohne Marktforschung falsche Ideen haben, damit baden gehen … und niemand spricht darüber). Die Kernaufgabe der Marktforschung ist und bleibt sicherlich nicht, das noch Ungedachte und Unentdeckte systematisch “auszugraben”.
Trotz aller intelligenter Algorithmen leidet auch Targeting häufig darunter, dass es nur den Massengeschmack abbildet und Leuten Dinge empfiehlt die sie selbst schon mal aufgesucht haben. Wie könnte es, aus Ihrer Sicht, Targeting schaffen, nicht nur relevante, sondern auch spannende Empfehlungen für User zu generieren?
Sie sprechen mit dieser Frage ein deutliches Manko von Targeting an, auf das viele Kritiker von Anfang an hingewiesen haben, das aber in den aktuellen Diskussionen etwas unterschlagen wird. Ich glaube, dass Targeting hier keine Chance hat und dass dies auch die Erklärung für die Notwendigkeit von Massenmedien und Ähnlichem ist. Alles, was “on demand” geschieht setzt voraus, dass Menschen “on demand” entwickelt haben und dass sie jeweils wissen, was sie wollen und vor allem, was sie nicht wollen. Zu wissen, was man nicht will, verlangt aber zu kennen, was es gibt! Dies wird die natürliche Grenze – bitte entschuldigen Sie – von on demand, von Targeting sein und es wird die natürliche Existenzberechtigung für TV-Vollprogramme, für ungekürzte Tageszeitung etc. sein. Eine Möglichkeit wüsste ich: Aber die geht nur deanonymisiert und ist damit für mich ein no go.