Die FTD hat sie schon vor 10 Jahren unter die 100 einflussreichsten Manager der New Economy gewählt. Sie ist die meistgelesene Frau in twitter. Sie hat die Gründung von nugg.ad massgeblich mit beeinflusst und begleitet und wenn Sie es vor ein paar Jahren etwas länger als 2 Tage in Bielefeld ausgehalten hätte wäre sie heute meine Chefin.
Martina Pickhardt hat mit Cocus schon im Jahr 2000 einen Personalisierungs-Service auf den Weg gebracht, der in vielerlei Hinsicht noch heute wegweisenden Charakter hat. Sie ist eine Wanderin zwischen den Welten, versteht wie Algorithmen funktionieren, kann programmieren und eine Datenbank designen hat aber auch schon auf der Theaterbühne und dahinter gestanden. Sie ist ausserdem eine grosse Web2.0 Versteherin und SciFi Expertin. Hören Sie was sie zum Thema Targeting zu sagen hat:
Du hast vor fast 10 Jahren bereits eine Firma für Online-Targeting gegründet – wart Ihr damals zu früh dran?
Tja, es ist in der Tat genau 10 Jahre her, dass ich Oracle Deutschland verlassen habe um ein StartUp zu gründen. Zu früh dran? Das kann man von zwei Seiten sehen. Irgendwann muss man anfangen, sonst könnten sich Innovationen nie entwickeln und reifen. Natürlich ist es schade, dass aufgrund der Unsicherheiten bei den Investoren durch die New Economy Blase, viele gute Modelle damals nicht genug Zeit zur Entwicklung bekommen haben.
Was würdest Du heute anders machen?
Heute habe ich es als Gründer durchaus leichter ein Softwareunternehmen zu gründen. Ich werde heute nicht gleich zu Anfang fast mehr die Hälfte des Venture Capitals (falls man es bekommt) in Hardware, Infrastruktur und Entwicklungssoftware investieren. Muss ich auch nicht, denn heutzutage stehen Opensource-Entwicklungsumgebungen zur Verfügung und die Infrastrukturkosten sind massiv gesunken.
Mit Open-ID, RFID und diverse Protokollen kann ich auf eine Vielzahl von Diensten zurückgreifen – die wir uns damals selbst ausdenken und entwickeln mussten. Kaum zu glauben eigentlich.
Das ganze Gattungsmarketing, also den Unternehmen zu erklären, was eigentlich Targeting ist und wie es Marketing helfen kann, brauchen wir nicht mehr zu machen. Das entlastet natürlich ungemein und hilft, sich auf die eigenen Kernkompetenzen zu konzentrieren, wie zum Beispiel: Umsatz generieren.
Wir hatten damals ein Henne-Ei-Problem. Auf der einen Seite unsere Consumer-Plattform ifay.de auf der wir Interessensprofildaten per OptIn gesammelt haben und auf der anderen Seite unsere eigentliche Software, die über eine von uns entwickelte Technologie in Echtzeit ein Matching zwischen Profildaten und Inhalten auf einer Website gemacht hat. Das passierte über einen „digitalen Schlüssel“, in dem das Interessensprofil des Users codiert war. Ohne eine ausreichende Menge an Profildaten machten aber die Schlüssel nur wenig Sinn. Also mussten wir beide Bereiche gleichermassen vorantreiben. Heute würde ich wohl den Komplexitätsgrad drastisch runterfahren und mich zunächst auf ein einziges Thema konzentrieren.
Was würdest Du heutigen Targeting-Unternehmen mit auf den Weg geben wollen?
Werbung ist kein relevantes Targetingziel der Zukunft. Denkt nach, was es stattdessen sein wird.
Wie wird sich Targeting in den nächsten 10 Jahren entwickeln?
Falls das Web3.0 – das semantische Netz – kein Buzzword bleibt, wird es dem Targeting einen enormen Schub geben.
Welche Arten von Targeting werden wir sehen an die heute noch keiner denkt?
Die Frage ist natürlich typisch für ein predictive behavioral Targeting Unternehmen. Ich kann natürlich hier nichts beschreiben, an das ich nicht schon gedacht hätte. Durch das Internet der Dinge, werden neue Formen von Targeting möglich. Mein Navigationsgerät im Auto weiß, was ich auf dem Einkaufszettel stehen habe und schlägt mir drei Supermärkte auf der Heimfahrt vor, in denen ich diese Dinge kaufen kann, inklusive Preisvergleich. Darauf können, oder müssen, die Warenhausketten irgendwann reagieren. Die profilbasierte Interaktion wird den normalen Internetbrowser verlassen.
Auf einer Skala von 1 bis 10 – wo stehen wir derzeit mit dem Thema in der Entwicklung?
Wir sind auf Warp4 .
Derzeit wird wieder viel über Datenschutz gesprochen im Zusammenhang mit Targeting. Habt Ihr Euch mit dem Thema damals auch beschäftigt? Was denkst Du wäre die ideale Lösung für datenschutzgerechtes Targeting heute?
Es ist tatsächlich so, dass Datenschutz damals eine wesentliche Triebfeder für uns war. Auch die neuen Konzepte, mit denen ich mich zur Zeit beschäftige, haben dort einen Schwerpunkt. Meine Meinung dazu war und ist: Transparenz!
Die User, die damals ihre Interessensprofile auf unserer Plattform ifay.de eingegeben haben, konnten genau verfolgen, an welche Unternehmen, zu welchem Preise, welche ihrer Daten vermittelt wurden. Sie konnten sogar bestimmte Unternehmen oder Branchen ausschliessen. 40% der Umsatzerlöse bekamen sie auf einem Konto gutgeschrieben. Natürlich wurde man davon nicht reich, aber der Vorgang war für alle transparent.
Der Grundsatz der Datensparsamkeit ist natürlich in Wahrheit eine Illusion. Viel zu viele Unternehmen verdienen Geld durch Daten, über Konsumenten und Kaufgewohnheiten. Und es werden eher mehr als weniger. Darum müssen sich die Unternehmen dem transparenten Umgang mit Verbraucherprofildaten öffnen. Das ist meine Meinung und meine Forderung.
Targeting kommt ja immer auch mit der Idee relevantere Werbung für User zu schaffen. Meinst Du das ist möglich? Was bedeutet relevante Werbung für Dich, wie müsste ein System funktionieren das so ein Ergebnis erzeugen kann?
Ich finde es sehr lustig, dass mit Targeting immer und sofort Werbung verbunden wird. Ich habe das nie so eng gesehen. Targeting ist für mich die Idee, relevantere Inhalte für User zu schaffen. Werbung kann einer dieser Inhalte sein, muss es aber nicht sein.
Relevante Werbung kommt für mich von keiner Marketingagentur, sondern von Menschen oder Gruppen, die ich kenne, denen ich vertraue, die ich auf irgendeine Weise toll finde oder mit denen ich mich identifiziere. Das System, das relevante Werbung erzeugt, heisst also „Mensch“. Eine irre Erfindung. Ich empfehle jedem Targeting Unternehmen noch mal in Ruhe das Cluetrain Manifesto zu lesen und ihre Tools dahingehend zu überprüfen, ob sie es unterstützen.
Bei Cocus und Eurer Consumerplattform ifay.de habt Ihr damals mit sehr umfangreichen Befragungen gearbeitet – denkst Du das war ein Fehler weil der Ansatz nicht skaliert? Oder würdest Du das heute wieder so machen?
Ich denke, die umfangreichen Befragungen waren kein Fehler. Natürlich skalieren Befragungen wenn man sie streut. Ich sehe aber heute weniger das Abfragen, als das Zuhören im Vordergrund. Die wahre Herausforderung für Unternehmen wird immer sein, die Gespräche der Märkte in konkrete Handlungsoptionen zu transformieren. Leider bekommen Unternehmen immer noch Statistiken, Klickraten, Zuschauerzahlen und demographische Zielgruppencluster von ihren Vermarktungsagenturen vorgesetzt und keine ganzen Sätze von Kunden, die Menschen durchaus zustande kriegen, wie man in den Social Media Umfeldern lesen kann. Und natürlich ist es auch so, dass all die Analysetools, Business Intelligence, Data Warehousing und Customer Relationship Management Systeme einzig und allein auf Vertriebsoptimierung aus Unternehmenssicht ausgerichtet sind. Kunden kommen in diesen Systemen selten vor und wenn, dann als verdichtete Zielgruppe. Sicher, Millionen von Gesprächsergebnissen und offene Befragungen müssen sinnvoll verdichtet werden, zur Zeit fehlen dafür aber einfach die Tools. Ich setze dabei große Hoffnungen auf semantische Algorithmen – die den Kunden am Ende nicht als statistische Einheit zurücklassen.
Werbung hat ja immer auch die Aufgabe Kunden mit neuen Produkten in Kontakt zu bringen und sie dafür zu begeistern. Wie kann ein Recommendation-System diese Aufgabe lösen wenn es doch vor allem auf dem bisherigen Verhalten des Users basiert? Besteht nicht sogar die Gefahr, dass man der Werbung damit viele Möglichkeiten raubt?
Diese ganzen Fragen resultieren aus Marktkonstrukten, die bald dem Marktingmittelalter zuzuordnen sind. Wenn sich das Netz im Sinne von Social Media so weiterentwickelt, wie das gerade tut, dann haben Kunden bereits in der Produktfindungs- und entwicklungsphase mitgearbeitet, ihre Meinungen und Wünsche geäußert, ihren Unmut und ihre Begeisterung eingebracht. Wenn das Produkt dann auf den Markt kommt, sind es genau diese Menschen, die es in die Märkte bringen. Ich sehe da 80 Millionen Möglichkeiten, jede einzelne wertvoller als ein künstlich erzeugtes Werbemittel. Fachbegriff: User generated Advertising. Werbung muss neu erdacht werden und die Recommendation-Systeme natürlich auch.
Du liest gerne SciFi Literatur. Bist Du manchmal davon genervt, dass die Realität die Bücher einholt?
Oh nein, im Gegenteil. Ich finde es faszinierend, dass gute SciFi Autoren mit ihren Extrapolationen in die Zukunft so oft richtig liegen, obwohl sie selten selbst mit aktuellen Technologien und Innovationen vertraut sind. Neal Stephenson hat in „Snow Crash“ den Begriff Avatar geprägt und 1:1 Targeting von Produkten ist praktisch im ganzen Buch immanent vorhanden. In Charles Stross „Accelerando“ dem neuen SciFi Shooting Star, startet man sozusagen im Heute, inklusive sozialen Netzwerken, Blogs, etc.. und endet in der Singularität, der Verschmelzung von Bewusstsein und Maschine. SciFi ist für mich die Inspiration für das Machbare und die Reflektion des Gewollten. Genervt? Nein. Ich liebe es. Verdammt. Das ist ein McDonalds Werbeslogan.
Wird es irgendwann eine Cocus 2.0 geben?
Ja, es wird irgendwann eine Cocus 2.0 geben. Nein, ich bleibe in Hamburg. Ja, ich würde gerne demnächst mit Dir Essen gehen.
Wir danken für das Gespräch!
Zuhören statt Messen? Marktforschung 2.0? In Kürze wird es hier ein Interview zu dieser Frage mit Hartmut Scheffler geben, dem Managing Director von TNS-Infratest.